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Beitrag vom 20.08.2023
Tove Jansson – Der Boulevard. Erzählungen
Doris Hermanns
Dass Tove Jansson nicht nur die Mumins erfunden hat sondern auch eine wunderbare Erzählerin ist, beweist sie in diesem neuen Band mit ihren frühen Geschichten wieder einmal mehr.
"Es ist meine Pflicht, meine Beobachtungsgabe zu verfeinern, indem ich die Entwicklung von dergleichen Episoden verfolge." Es scheint, als ob Tove Jansson in der titelgebenden Geschichte mit dieser Bemerkung auch zu sich selber spricht, ist es doch nicht nur die erste in diesem Band, sondern auch ihre Debüt-Erzählung von 1934; sie war damals gerade 20 Jahre alt. Darin geht ein Mann durch die Straßen von Paris und sieht in einem Restaurant ein Paar, das seine Phantasie beflügelt. "Zu gerne wüsste er, was der junge Mann erzählt – sind sie eventuell verlobt? Nein, unmöglich. Sie haben sich heute Abend zum ersten Mal getroffen, das ist ihm klar." Er denkt sich immer weiter Neues über die beiden aus, stellt manches auch wieder in Frage: "Ein schrecklicher Verdacht – sind sie etwa Geschwister? Doch nicht. Voller Befriedigung sieht Monsieur Chatain, wie sie sich einander zuwenden." Auch in anderen Geschichten schreibt sie über Menschen, die genau hinsehen, die zuhören, die weiterdenken.
Inspiriert wurden auch ihre anderen frühen Erzählungen in diesem Band von Reisen und Begegnungen. Die finnische Tove Jansson-Forscherin Sieke Happonen hat die hier in der Übersetzung von Birgitta Kicherer veröffentlichten Texte zusammengestellt. Diese sind zu Lebzeiten der Autorin ausschließlich in Zeitschriften erschienen und waren daher nur in Archiven zu finden. Der größte Teil – etwa zwei Drittel – sind Erzählungen aus den Jahren 1934 bis 1940. Bereits früh wollte Tove Jansson Geschichten erzählen und schreiben, wollte diese veröffentlicht und gelesen sehen. Anders als im Vorwort des Verlags angegeben hatte sie 1934 jedoch bereits ihr Kunststudium in Stockholm beendet, also auch nicht in Helsinki. Dorthin ging sie erst 1933 anschließend wieder zurück, wo sie mit Unterbrechungen von 1933 bis 1936 die Malklasse an der Zeichenschule des Kunstvereins besuchte. Noch waren Reisen wie nach Paris und Italien möglich; der Faschismus wird angedeutet, ein Hakenkreuz wird erwähnt, wie auch Mussolini, auf Capri wird "eine bekannte Persönlichkeit von rein arischer Herkunft damit betraut, draußen im Park nordische Lieder vorzutragen". Anders als in den Zeichnungen, die zu dieser Zeit entstanden und sehr klar politisch Stellung bezogen, wird aber hier in den Erzählungen nicht weiter darauf eingegangen.
Für Tove Jansson war dies eine äußerst produktive Zeit, sowohl was ihre Malerei betraf als auch ihr Schreiben. Aber auch während der Kriegszeit (Finnland befand sich 1939/1940 mit der Sowjetunion aufgrund deren kriegerischem Übergriff, mit dem Ziel ganz Finnland zu besetzen, im Winterkrieg) konnte sie bis 1940 weiterhin in schwedischsprachigen Zeitschriften veröffentlichen, Erzählungen, die auch in diesem Band vorliegen.
Es geht um Menschen, die in Bewegung sind, sei es zu Fuß, mit dem Zug oder mit Schiffen. Über TouristInnen amüsiert sich die Autorin immer wieder: "So sind sie, die Sommerfrischler. Tun großartig, wenn sie sich blamiert haben, und entschuldigen sich, wenn sie sich ausnahmsweise ganz natürlich benommen haben." Es fehle ihnen an Taktgefühl. "Aber man muss sich eben an sie gewöhnen. Niemand kann die Sommerfrischler ändern, denn so sind sie nun einmal." (in: Auf dem Dampfsteg)
Auf einer Italienreise wird einem Ehepaar deutlich, welch unterschiedliche Erwartungen sie haben. Sie sind auf Capri, einer der schönsten Inseln der Welt. Herr Grönros möchte gerne bedient werden, ihn stört es auch nicht, dass es Erbsensuppe und kein italienisches Essen gibt, er bezahlt auch gerne dafü "echten italienischen Geist" sowie echte Romantik erleben möchte. Doch am Ende sind sie sich einig: "Nie wieder Capri".
Mehrere Erzählungen spielen sich in Paris ab, wo Tove Jansson bei ihrer zweiten Reise 1938 mehrere Kunstschulen ausprobierte. Auch hiervon erzählt sie in einem Text: "Ich versorge sämtliche Kunststudenten mit Malerlumpen, Bonbons und Ansteckblumen, ich rannte wie eine Irre herum, um Öle und Farben zu besorgen, ich wurde mit Terpentin und Ironie überschüttet – das war Tradition, ich war ein Neuling." Und Neulinge dürfen erst sprechen, wenn sie gefragt werden – und gefragt werden sie NIE. Aber sie beschreibt auch die dortige Lebenslust: "Im Atelier wurde um die Staffeleien getanzt, man setzte Energie und Lebensfreude in Lautwellen um, die nur selten wie Gesang klangen." (in: Quat´z´Arts)
Die letzten fünf Texte in diesem Band wurden in der Zeit von 1961 bis 1997 erstmals veröffentlicht, teilweise sind es Auftragsarbeiten. Vieles ist im Zusammenhang mit Tove Jansson bereits bekannt, wie ihre Insel-Liebe, über die hier eine wunderbare Erzählung aufgenommen ist. Ein Jahr auf einer Insel, aber auch wie das Leben dort, einen Menschen verändert. "Und wie jedes Jahr vergisst man, dass das Glück in der Erwartung liegt, und nicht in der Erfüllung." Aber auch um die Mumins geht es in mehreren Geschichten: "Sie machen meistens, was ihnen gerade einfällt. Bleiben oder gehen, etwas haben oder verschenken, das ist nicht so wichtig, Hauptsache, man lebt aus voller Kraft."
Es geht nicht um Schwarz-Weiß, sondern um "Eine Welt, in der Grau nicht die Farbe der Tristesse ist, sondern gleichbedeutend mit dem verzauberten Dunst, den die Perspektive vor das Verborgene legt". Eine Welt, in der Teilen für mehr Glück steht.
Und nicht zu vergessen: "Es spricht doch von Kreativität, wenn alles ein einziges Durcheinander ist."
AVIVA-Tipp: Eine Mischung aus den ersten Erzählungen von Tove Jansson und Späterem, Vertrauten, Bekannten: Reisen, Seen, Insel, Mumins. Es ist kein neuer Blick, aber von diesen Erzählungen geht etwas sehr Ruhiges, oft auch eine Leichtigkeit und viel Humor aus und gleichzeitig eine große Lebenslust. Nicht zufällig kommt immer mal wieder der Frühling als Neuanfang vor. In einer wunderbaren Sprache, die auch deutlich macht, wie genau ihr Blick ist.
Zur Autorin: Tove Jansson (1914-2001) wuchs in einem KünstlerInnenhaushalt in Helsinki auf. Mit 16 begann sie in Stockholm ihre künstlerische Ausbildung, studierte in Paris und Helsinki und arbeitete als Illustratorin und Karikaturistin. International wurde sie durch ihre Mumin-Bücher und -Comics bekannt, schrieb aber außerdem viele Romane und Kurzgeschichten für Erwachsene. In den 50er-Jahren traf sie die Graphikerin Tuulikki Pietilä, mit der sie bis zu ihrem Lebensende zusammenblieb.
Die Biographie von Tove Jansson auf Fembio www.fembio.org
Tove Jansson
Der Boulevard. Erzählungen
Originaltitel: Bulevarden
Aus dem Schwedischen von Birgitta Kicherer
ISBN 978-3-8251-5347-2
Urachhaus, 1. Auflage erschienen 2023
160 Seiten, Hardcover mit Umschlag
Euro 22,90
Mehr zum Buch unter: www.urachhaus.de
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Tove Jansson – Briefe von Klara
Die Künstlerin und Schriftstellerin Tove Jansson, die durch ihre Mumins weltberühmt geworden ist, ist auch eine Meisterin der Kurzgeschichten, wie sie in diesem neuen Band wieder einmal mehr unter Beweis stellt. (2020)
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Auch wenn Tove Jansson vor allem mit ihren Moomins bekannt geworden ist, so sind ihre Erzählungen immer wieder eine Entdeckung wert. In diesem Band, der uns an verschiedene Orte führt, gibt es unter anderem auch eine Erzählung, in dem es um einen Comic-Zeichner geht, dessen Erfahrungen an ihre eigenen erinnert. (2019)
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Weiterlesen:
Website zu Tove Jansson: www.tovejansson.com
Das Unternehmen Oy Moomin Characters Ltd, das Tove Jansson mit ihrem Bruder Lasse Ende der 1950er Jahre gründete, ist im Netz zu finden unter: www.moomin.com
www.reprodukt.com
Westin, Boel: Tove Jansson: Life, Art, Words. The Authorized Biography. Translation: Silvester Mazzarella. Sort of Books 2014